Die Sonne war ein Versprechen. Mit neun Jahren wusste Deeqa das so sicher, wie sie den Klang ihres eigenen Namens kannte. Es war das Versprechen von Wärme auf der gestampften Erde des Gehöfts, das Versprechen, Eidechsen zu jagen, bis ihre Schwänze abrissen, das Versprechen, dass die Welt weit und hell war und ihr gehörte.
An diesem Morgen fühlte sich das Versprechen anders an. Es war schwerer, wichtiger. Die Sonne schien nur für sie zu scheinen. Ihre Mutter, Amina, hatte sie vor den Hähnen geweckt, ihre Hände waren weicher als sonst, ihre Stimme ein leises, süßes Summen. Es gab ein besonderes Bad mit Wasser, das mit einem Akazienzweig parfümiert war, ein Ritual, das nicht nur den Staub von gestern, sondern, wie es schien, ihre gesamte Kindheit wegschrubbte.
Sie wurde in einen neuen Guntiino gekleidet, eine Kaskade aus leuchtend orangefarbenem und goldenem Stoff, der sich auf ihrer Haut unmöglich erwachsen anfühlte. Er kratzte ein wenig an ihren Schultern, eine angenehme, wichtige Reibung.
„Heute wirst du eine Frau, meine Deeqa“, flüsterte Amina, ihre Augen leuchteten in einem seltsamen, wilden Licht, das Deeqa fälschlicherweise für reinen Stolz hielt. „Heute ist ein Tag der Feier.“
Feier. Das Wort war ein Geschmack von Honig und Datteln auf ihrer Zunge. Es bedeutete Anerkennung. Es bedeutete, dass sie gut war. Sie stand gerader, streckte die Brust heraus und folgte ihrer Mutter in den Hof, eine kleine Königin in einer geliehenen Krone aus Sonnenlicht. Die anderen Frauen des Gehöfts hatten sich versammelt, ihre Stimmen ein Fluss des Lobes. Sie berührten ihr Haar, ihre neuen Kleider, ihre Lächeln waren breit und strahlend. In der Ecke des Hofes sah Deeqa ihre Großmutter, eine Frau, deren Gesicht eine wunderschöne Landkarte aus Falten war, die über einem dampfenden Kessel wachte.
Und sie sah ihre kleine Schwester, die achtjährige Asha, die hinter einer Tür hervorlugte, den Daumen im Mund, die Augen weit vor kindlichem Staunen über das Spektakel. Deeqa winkte ihr königlich und erwachsen zu.
Der Stolz trug sie den ganzen Weg bis zur Hütte ihrer Großmutter. Aber in dem Moment, als sie die Schwelle überschritt, verschwand die Sonne.
Die Luft drinnen war dick und erstickend, eine Decke, gewebt aus den Gerüchen von brennendem Weihrauch, gekochten Kräutern und etwas anderem – etwas Scharfem und Kaltem, wie ein Stein vom Grund eines Brunnens. Die lächelnden Gesichter ihrer Mutter und Tanten folgten ihr hinein, aber die Lächeln erreichten ihre Augen nicht mehr. Es waren Masken, ihre Mienen von einer grimmigen, heiligen Pflicht gezeichnet.
In der Mitte der Hütte saß die Gudda, die alte Frau, die die Beschneiderin des Dorfes war. Ihr Gesicht war noch faltiger als das ihrer Großmutter, aber es lag keine Weichheit darin, nur eine immense, unerschütterliche Autorität. Neben ihr, auf einer kleinen, abgenutzten Matte, lag ein Bündel Stoff. Etwas blitzte aus seinen Falten hervor.
Der honigsüße Geschmack der Feier wurde zu Asche in Deeqas Mund. Eine kalte Ranke der Angst schlang sich um ihre Wirbelsäule. Das war keine Party. Das war etwas anderes.
„Mama?“, flüsterte sie und drehte sich um, aber die Hände ihrer Mutter, die nur Momente zuvor so sanft gewesen waren, lagen nun fest auf ihren Schultern. Die anderen Frauen rückten näher, ihre Körper bildeten eine weiche, unentrinnbare Mauer.
„Es ist für deine Reinheit, mein Kind“, sagte ihre Großmutter, ihre Stimme nicht mehr das warme Raunen, das Geschichten erzählte, sondern ein flacher, zeremonieller Singsang. „Es soll dich rein machen. Dich würdig machen.“
Die Worte ergaben keinen Sinn. Ihre Fragen wurden zu einem Wimmern, dann zu einem Schrei, als sie sie auf die Matte legten. Die Hände, denen sie ihr ganzes Leben lang vertraut hatte, die Arme, die sie gehalten hatten, wenn sie fiel, waren nun die Fesseln, die ihren zappelnden Körper an die Erde fesselten. Ihre Schreie begannen, hoch und durchdringend, aber sie wurden von den lauter werdenden Stimmen der Frauen verschluckt, deren Gesang eine unerbittliche Welle war, die gegen ihre Furcht schlug, sie ertränkte, sie auslöschte.
Sie drehte den Kopf, ihre Wange schrammte über die raue Matte, und für einen einzigen, brennenden Moment sah sie die Türöffnung. Darin eingerahmt war Ashas Gesicht, nicht mehr staunend, sondern eine blasse Maske des Entsetzens, ihre Augen zwei dunkle Teiche, die eine Szene spiegelten, die sie unmöglich verstehen konnte, von der sie aber mit dem Urinstinkt eines Kindes wusste, dass sie eine Verletzung war.
Dann beugte sich die Gudda über sie. Deeqa sah das Blitzen wieder, eine kleine, gebogene Klinge, die zwischen geübten Fingern gehalten wurde. Sie spürte das kalte Tupfen von etwas Nassem zwischen ihren Beinen, und dann einen Schmerz, so absolut, so blendend, dass er keine Form und keinen Klang hatte. Es war kein Schnitt. Es war eine Vernichtung. Die Sonne verschwand nicht nur vom Himmel; sie wurde aus dem Universum ausgelöscht. Ihre Welt, ihr Körper, ihr ganzes Wesen wurde von einer einzigen, weißglühenden Linie der Qual in zwei gerissen.
Als sie wieder zu sich kam, war es in einer Welt pulsierender Dämmerung. Sie war zurück in ihrer eigenen Hütte, die vertrauten Muster an den gewebten Wänden ein grausamer Hohn auf die Normalität, die ihr gestohlen worden war. Ihre Beine waren vom Knöchel bis zum Oberschenkel fest mit Stoffstreifen zusammengebunden, was sie in ein Gefängnis aus ihrem eigenen Fleisch sperrte. Ein Feuer wütete zwischen ihren Beinen, eine unaufhörliche, brennende Qual, die mit jedem Schlag ihres Herzens pochte.
Später, durch einen Schleier aus Fieber, sah sie das Gesicht ihrer Mutter, ihre Augen voller Mitleid, das sich wie ein weiterer Verrat anfühlte. Amina bot ihr Wasser an, strich ihr über die Stirn und flüsterte, dass der Schmerz vergehen würde, dass sie tapfer gewesen sei, dass sie nun heil sei.
Aber Deeqa kannte die Wahrheit. Sie war nicht heil. Sie war zerbrochen. Und in dem dunklen, stillen Raum, wo früher die Sonne gewesen war, begann eine einzige, kalte Frage zu wachsen, eine Frage, die sie niemals laut zu stellen wagen würde, die sie aber für den Rest ihres Lebens im Mark ihrer Knochen tragen würde: Warum?
Abschnitt 1.1: Mehr als eine Tradition: Das Verbrechen benennen
Was Deeqa in dieser Hütte widerfuhr, war keine „kulturelle Praxis“. Es war kein „Übergangsritus“, kein „Brauch“ oder eine „Tradition“. Solch neutrale, akademische Sprache zu verwenden, bedeutet, sich an der Lüge mitschuldig zu machen. Es bedeutet, einen Akt der Barbarei zu beschönigen und ihm eine Legitimität zu verleihen, die er nicht verdient. Seien wir präzise. Seien wir unerschrocken.
Was Deeqa widerfuhr, war Kindesmissbrauch.
Es war schwere Körperverletzung mit einer tödlichen Waffe.
Es war Folter.
Der Akt ist klinisch als weibliche Genitalverstümmelung (Female Genital Mutilation, FGM) bekannt. Die Weltgesundheitsorganisation definiert ihn als „alle Verfahren, die die teilweise oder vollständige Entfernung der äußeren weiblichen Genitalien oder andere Verletzungen der weiblichen Geschlechtsorgane aus nicht-medizinischen Gründen beinhalten.“ Sie wird in vier Haupttypen eingeteilt, die von der Entfernung der Klitorisvorhaut (Typ I) bis zur extremsten Form, der Infibulation (Typ III), reichen, bei der Klitoris und Schamlippen entfernt und die Wunde zugenäht wird – genau das Verfahren, das Deeqa und die Mehrheit der somalischen Mädchen erdulden.
Aber diese klinische Sprache ist zwar notwendig, aber auch unzureichend. Sie vermag es nicht, die Absicht und die politische Realität des Aktes zu erfassen.
FGM ist ein Verbrechen der Macht. Es ist ein vorsätzlicher Akt geschlechtsspezifischer Gewalt, der darauf abzielt, den Körper eines Mädchens dauerhaft zu verändern, um ihre Zukunft, ihre Sexualität und ihr soziales Kapital zu kontrollieren. Es ist ein System patriarchalischer Herrschaft, das in Fleisch und Blut manifestiert wird. Die Klinge der Gudda ist nicht nur ein Werkzeug der Tradition; sie ist das Instrument einer sozialen und politischen Ordnung, die die Unterwerfung von Frauen als Preis für die Aufnahme fordert.
Wenn eine Regierung ihre Bürger nicht vor Übergriffen schützt, ist sie fahrlässig. Wenn sie ihre Kinder nicht vor Folter schützt, ist sie moralisch bankrott. Die provisorische Verfassung Somalias bezeichnet FGM ausdrücklich als „gleichbedeutend mit Folter“ und verbietet sie, doch die Praxis wird mit nahezu universeller Verbreitung und völliger Straflosigkeit fortgesetzt. Dies ist kein legislatives Versehen. Es ist ein katastrophales Versäumnis der grundlegendsten Pflicht des Staates. Jeder Schrei, der von den Wänden einer Hütte verschluckt wird, ist eine Anklage gegen eine Regierung, die sich entschieden hat, wegzusehen, die die Besänftigung traditionalistischer Machthaber über die körperliche Unversehrtheit der Hälfte ihrer Bevölkerung stellt.
Daher müssen wir damit beginnen, die Euphemismen zu beseitigen. Der Kampf gegen FGM ist keine Verhandlung zwischen Kulturen. Es ist ein Kampf gegen ein Verbrechen. Deeqa war keine Teilnehmerin an einer Tradition; sie war das Opfer eines gewalttätigen Übergriffs, der von ihren Lieben unter dem Zwang eines brutalen Sozialkodex verübt und durch die stille Komplizenschaft des Staates gebilligt wurde. Solange wir es nicht als das benennen, was es ist, können wir niemals hoffen, es abzubauen.
Abschnitt 1.2: Der politische Körper: Warum ihr Körper?
Warum wurde Deeqas Körper und nicht der ihres Bruders für dieses Ritual der „Reinigung“ ausgewählt? Warum ist es in so vielen Kulturen der weibliche Körper, der zum primären Schlachtfeld für Ehre, Tradition und soziale Kontrolle wird? Dies zu beantworten bedeutet, das politische Herz von FGM zu verstehen.
Der Akt wurzelt in einer einzigen, mächtigen patriarchalen Angst: der Furcht vor ungezügelter weiblicher Sexualität.
In einem System, das auf klaren männlichen Erbfolgen aufgebaut ist, stellt die sexuelle Autonomie einer Frau eine direkte Bedrohung dar. Die Vaterschaft muss sicher sein. Die Abstammung muss garantiert werden. Der Körper einer Frau ist daher nicht ihr eigener; er ist das Eigentum ihres Vaters, ihres Mannes, ihres Clans. Er ist ein Gefäß, durch das die männliche Linie fortgepflanzt wird, und seine Reinheit muss physisch, brutal durchgesetzt werden.
FGM ist der direkteste und verheerendste Ausdruck dieser Kontrolle. Es ist ein dreifacher Angriff:
Er versucht, das Verlangen zu eliminieren: Durch die Entfernung oder Beschädigung der Klitoris, dem primären Zentrum weiblicher sexueller Lust, zielt die Praxis darauf ab, die Libido einer Frau zu reduzieren. Die Logik ist einfach und grausam: Eine Frau, die kein Verlangen nach Sex hat, wird ihn weniger wahrscheinlich außerhalb ihrer ehelichen Pflichten suchen. Sie wird „handhabbar“ gemacht.
Er erzwingt Treue durch Schmerz: Die physische Realität von FGM, insbesondere der Infibulation, macht den Geschlechtsverkehr zu einem schmerzhaften, schwierigen Akt statt zu einem lustvollen. Dies dient als weitere Abschreckung vor jeder sexuellen Aktivität außerhalb der Pflicht zur Fortpflanzung.
Er dient als öffentliches Zeichen des Besitzes: Das Narbengewebe ist ein dauerhaftes, physisches Zeugnis dafür, dass das Mädchen gemäß den Regeln ihrer Gesellschaft „rein gemacht“ wurde. Es ist ein Zeichen der Konformität, ein Zeichen dafür, dass sie eine geeignete, nicht bedrohliche Ware für den Heiratsmarkt ist. Ein unbeschnittenes Mädchen hingegen wird als „wild“ angesehen, als Risiko, ihr Körper und ihre Begierden ungezähmt und daher gefährlich für die soziale Ordnung.
Deshalb sind die Rechtfertigungen für FGM – dass es die Hygiene fördere, dass es eine religiöse Vorschrift sei – offenkundig falsch. Es geht nicht um Sauberkeit; es geht um Kontrolle. Es geht nicht um Gott; es geht darum, zu garantieren, dass Männer und die von ihnen geschaffenen patriarchalen Systeme die alleinigen Schiedsrichter über das Leben, den Körper und die Zukunft einer Frau bleiben.
Das Versäumnis der somalischen Regierung, diese Praxis zu stoppen, ist daher ein Versäumnis, Frauen als vollwertige und souveräne Bürgerinnen anzuerkennen. Indem der Staat zulässt, dass ihre Körper systematisch verstümmelt werden, um einer patriarchalen Sozialstruktur zu dienen, stimmt er implizit zu, dass eine Frau kein Individuum mit einem Recht auf körperliche Autonomie ist, sondern ein Stück Gemeinschaftseigentum. Deeqas Wunde ist nicht nur eine persönliche Verletzung; sie ist eine politische Narbe, ein Zeichen ihrer Unterwerfung, das mit der stillen Zustimmung derer, die sie schützen sollen, in ihr Fleisch geritzt wurde.